Geschichten

Isabella

„Wer bist‘n du?“ Ferkel war gerade vom Sofa im Arbeitszimmer in die Küche geschlurft, um nach eventuellen Äpfelchen oder anderen Leckereien zu schauen, bevor es sich zum Kuschelsessel im Wohnzimmer begeben wollte. Äpfelchen fand es nicht – dafür stand ein kleines rosa Wesen verloren halb unter dem Tisch und schaute sich ein wenig schüchtern um. Ferkel schwankte zwischen hocherfreut – endlich ein Spielkamerad -, erschrocken – es war noch nicht ganz wach – und misstrauisch – vielleicht waren ja eben noch Äpfelchen dagewesen… Aber vor allem war es neugierig auf das andere kleine Schweinchen.

„Ich bin Isssabella“, sagte die Kleine, klimperte mit den langen Wimpern und guckte niedlich. Von wegen „schüchtern“. „Und du?“ „Isabella“ klang lustig, wie das Ferkelmädchen es aussprach. So, als verlöre sie irgendwie Luft beim Sprechen. „Ich bin ein lesssbissschess Landsschwein!“, verkündete sie – und schon wieder zischte sie so ein bisschen bei dem s und dem sch. Was genau lesbisch war, wusste Ferkel nicht, kam aber auch nicht dazu, darüber nachzudenken, weil Isabella noch nicht fertig war mit ihrer Vorstellung: „Auss Sssspanien!“ ergänzte sie und guckte, wie sie sich offenbar „temperamentvoll“ vorstellte. „Ich bin Ferkel“, sagte Ferkel. „ich wohne hier!“

„Ich glaube, ich jetszt auch. Szumindest manchmal“, entgegnete Isabella. „Ich bin Judith und Ssussanne begegnet, als eine Freundin von ihnen mich mit einem iberisssen Jungssswein in der Sspeisssekarte verwechsselt hat. Und bevor ich wieder verlorengehe, haben ssie mich halt mitgenommen. Sssschön iss ess hier!“

„Manchmal“ war für Ferkel in Ordnung. Solange es die Nummer eins bei den Mädels blieb, war ihm eine Spielkameradin gerade Recht. „Komm, ich zeige Dir die Wohnung!“ Los ging‘s beim Altpapier, an dem Ferkel und Isabella gegenseitig ihre Wühlkünste demonstrierten. Weiter machten sie mit dem kleinen Tisch daneben, von dem aber trotz ausgedehnter Rempeleien kein Äpfelchen herunterfallen wollte. Bis auf eine Kunststoffschale mit Dekosand blieb alles oben. Aber mit dem Sand konnte man ja nichts anfangen, wie Ferkel nach kurzem Schnüffeln entschied.

Die Süßigkeitenschublade unterm Kühlschrank war ja leider abgeschlossen – überhaupt hatten Judith und Susanne gelernt und die Wohnung weitgehend ferkelsicher gemacht. Gemeinheit, das. Aber in den anderen Zimmern gab es ja noch genug zu entdecken. Die Mädels schliefen noch. So lange man leise war, hatte man also alle Möglichkeiten. Ferkel zeigte Isabella, wie man aufs weiße Sofa kommt und wie viel Spaß es macht, darauf zu hüpfen. Zu zweit war es sogar noch viel lustiger als allein, fand Ferkel und mochte Isabella direkt noch lieber.

Isabella war aber auch sehr raffiniert und fantasievoll: Mit ihrer Schnauze angelte sie geduldig an einem Deckchen, das auf einem Couchtisch lag, bis die beiden doch an die Kekse in einer kleinen Schale darauf kamen. Waren zwar nur vier Stück, aber immerhin. Die Schale hatte Isabella elegant mit dem Rüssel aufgefangen, bevor sie zu Bruch gehen konnte, und die Krümel hatten beide akribisch aufgeleckt. Judith und Susanne konnten sich also nicht beschweren. Der Korb mit Wäsche, der von gestern noch im Wohnzimmer stand, war auch schnell inspiziert: Im Probeliegen auf Kleidung hatte Ferkel inzwischen Übung.

Bevor es ihnen zu langweilig wurde, wanderten die Schweinekinder weiter ins Bad. Ferkel war begeistert: Zu zweit schaffte es immerhin eins von ihnen ins Waschbecken, konnte da das Wasser anmachen und sich vom ganz aufgedrehten Wasserstrahl massieren kassen. Und das Ferkel unten am Boden kriegte auch was von der Dusche ab, allerdings nur sanfte Tropfen. Immerhin viel davon. Mit einem gezielten Sprung war auch das Handtuch organisiert – sogar ein ganz frisches, wie Ferkel begeistert erschnupperte. Wie weich das an der zarten Ferkelhaut war! „Ssso, jetzsst bin ich auch gar nicht mehr nasss“, freute sich Isabella. So langsam machte sich Ferkel ein bisschen Sorgen. Das Zischen, mit dem Isabella immer sprach, klang ja ganz lustig. Aber es musste unbedingt mal nachschauen, wo die kleine Spanierin die Luft verlor, nahm sich Ferkel vor. Vielleicht war das ja gefährlich! Und vielleicht konnte Ferkel sie reparieren! Aber so dringend schien das nicht zu sein, dachte Ferkel etwas beruhigter. Im Moment jedenfalls wirkte sie noch ganz fidel und munter.

Frisch geduscht trippelten die beiden Schweinchen vorsichtig am Schlafzimmer vorbei – von drinnen hörte Ferkel noch gar nichts – um das Arbeitszimmer zu inspizieren. Auf dem Weg dahin kamen sie noch am Schuhregal vorbei. „Guck mal, das sind meine Lieblingsschuhe“, flüsterte Ferkel und angelte ein paar Ballerinas von Susanne aus dem Regal. „Die riechen so schön nach Leder und Straße und Susanne!“ „Die anderen sssind aber auch sssehr ssschön“, bestägtige Isabella und betrachtete die anderen Schuhe, die mit den Ballerinas den Weg nach unten auf den Boden gefunden hatten.

Ferkel schüttelte resigniert den Kopf. „Die stellen das Regal einfach zu voll! Kein Wunder, wenn alles rausfällt, wenn man nur einen Schuh braucht!“ Kaum hatte es den Satz zuende gesprochen, zerrte es an einem Paar Sandalen – und räumte auch hier das halbe Regalbrett leer. Auf Judiths Seite war das offenbar das gleiche, denn als Isabella einen Stöckelschuh herauszog – der glitzerte so schön blau – kam auch hier noch ein Schwung Schuhe mit. Leise quiekte Isabella auf. „Genau auf die Nassse“ beschwerte sie sich, ebenso wie Ferkel halb unter einem Berg Schuhe begraben. „Das hätte auch ins Auge gehen können“, dachte Ferkel besorgt, sagte aber nichts, um Isabella nicht unnötig Angst zu machen. Es musste unbedingt mit den Mädels über ihre Ordnung sprechen! Und über Sicherheitsaspekte beim Schuhekauf! Aber nicht jetzt, die beiden schliefen noch. Und frisch geweckt reagierten sie auf Ferkels Vorschläge immer sehr abweisend. Unfair, aber so langsam wusste Ferkel, wann es besser ruhig war.

Bevor noch mehr passieren konnte, zog es Isabell lieber weiter zum Arbeitszimmer. Das Schweinemädchen schnüffelte interessiert an den unterschiedlichen Papiersorten und prüfte mit einem sehr fachkundig wirkenden Biss deren Festigkeit, bevor sie unter Judiths Schreibtisch einen Bleistift zum Draufrumkauen fand. Ferkel war sehr beeindruckt. Vielleicht würde Isabella ja ein Büroschwein werden, wenn es groß war! Für Ferkel war sowas natürlich nichts, es würde schließlich Wissenschaftler werden.

Ferkel führte seine neue Freundin zum schwarzen Ledersofa. „Hier schlafe ich immer!“, informierte Ferkel Isabella, während sie hinaufkletterten. „Also, wenn ich nicht gerade im Wohnzimmer einschlafe oder die Mädels die Schlafzimmertür aufgelassen habe.“ „Ssschön gemütlich“, fand Isabella und zupfte bereits ein Kissen zurecht. Kurz zweifelte Ferkel, ob das so eine gute Idee gewesen war, seine Lieblingsplätze preiszugeben, und legte sich probeweise dazu. Dann aber stellte es fest, dass es zu zweit noch viel gemütlicher war, so an- und aufeinandergekuschelt. So schön warm und weich und rosa und schweineborstig. Und ehe sie es sich versehen hatten, waren sie eingeschlafen.

Geweckt wurden sie von einem Schrei. Ein erstickter Schmerzensschrei, unverkennbar von Judith. An den Schrei an schlossen sich eine Reihe von Flüchen und ein zorniges „Ferkel!!“ Boah, das war sowas von unfair! Nur weil Judith sich offenbar den Zeh an den Schuhen im Flur gestoßen hatte, war Ferkel wieder schuld! Wer hatte denn die Schuhe so eng gestopft, als sie gestern „aufgeräumt“ hatten? Und wer läuft immer halbblind zum Klo, weil sie die Brille nicht aufsetzt? Eben. Von wegen „ich finde den Weg auch blind“… Da war sie auch schon herangehüpft, und hinter ihr stand eine verschlafene Susanne.

Während Judith nur ein rosa Knäuel erkennen konnte, sah Susanne auch ohne Brille sehr scharf. Und genau so guckte sie jetzt auch. „Wer bist‘n du?“, fragte sie. „Isssabella!“, antwortete Isabella. „Ferkel“, antwortete Ferkel. Für die Mädels hörte sich das nur nach fröhlichenm Quieken iund Grunzen an, was aber nicht schlimm war. „Zwei Schweine, die ab jetzt hier Chaos stiften?“, fragte Judith entgeistert – hören konnte auch ohne Brille. „Wo kommt das denn her?“ Susanne hatte sich schneller gefasst. „Das wird das lesbische Landschwein von gestern sein“, meinte sie seufzend. „Wie hatten wir es genannt? Isabella? Das kann ja heiter werden…“

 

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