Geschichten

Das Schwein in der Gardine

Ferkel stupste die Tür auf und trippelte in den Flur. „Ferkel öffnete die Tür und schritt hindurch“ wäre ihm lieber gewesen – aber dafür hätte man an die Klinke kommen müssen. Und das mit dem Schreiten… Ach, lassen wir das.

Immerhin war das langjährige Schweinekind so geschickt, sämtliche Türen aufzubekommen und sich frei in der Wohnung bewegen zu können. Judith und Susanne hatten am Anfang sehr erfreut geschaut, als es das erste Mal plötzlich im Schlafzimmer stand (zumindest glaubte Ferkel, dass es ein Ausdruck der Freude war, als es zu den beiden aufs Bett geklettert und mitgekuschelt hatte), aber inzwischen hatten sie es als gegeben hingenommen (was im Klartext hieß, dass alles Leckere weggeschlossen und alles Zerbrechliche eine Etage höher gestellt worden war).

Im Flur war es so dunkel… Hm. Aber Ferkel hatte schon lange keine Angst mehr, seitdem Judith ihm fluchend klargemacht hatte, dass es selbst die größte Gefahr in dunklen Räumen darstellte. Stolperfalle… Was die immer hatten. Ferkel jedenfalls war noch nie über sich gestolpert. Zügig legte Ferkel die sechs Meter zwischen Arbeitszimmer und Küche am Ende des Flurs zurück, seine Pfoten klackerten auf dem Laminat. Fröhlich grunzte es, um sein Kommen anzukündigen und fertig ausgebreitete Arme zum Reinspringen vorzufinden, wenn es denn in der Küche angekommen war. Oder – noch viel besser – etwas Leckeres zu fressen. So ein ausgedehnter Samstagmittagsschlaf zwischen den Kissen auf dem Sofa macht ganz schön hungrig! Aber: nix! Keine Judith, keine Susanne, keine Arme, kein Leckerli. Nur der Napf mit Wasser und die Schale mit Trockenfutter. Trockenfutter! „Für Notfälle“, hieß es immer. Und weil Ferkel den beiden Mädels angeblich die Haare vom Kopf fraß, weil es ständig Möhrchen und Äpfelchen wollte und Brötchen und Kohl und natürlich gern auch mal ein Stückchen Schokolade. Trockenfutter! Lustlos schnüffelte Ferkel an den Bröckchen und beschloss, spontan Diät zu machen. Zumindest so lange, bis es was Ordentliches zu fressen gefunden hatte. „Allesfresser“ hieß zwar, dass man alles fressen konnte – aber noch lange nicht, dass man das auch wollte.

Ferkel machte sich daran, die Wohnung gründlich zu inspizieren. Dass sich auch in den anderen Zimmern nichts geregt hatte, hatte Ferkel schon auf dem Weg quer durch die Wohnung festgestellt. War es etwa allein? Hatten die beiden Frauen es allein gelassen? Vielleicht waren sie spazieren – ohne Ferkel! Oder schlimmer noch: einkaufen! Einkaufen an sich war gut, Das bedeutete meistens frisches Futter – aber Einkaufen OHNE FERKEL, das ging eigentlich gar nicht. Zumindest nicht aus Ferkels Sicht, die Mädels sahen das anders. Warum auch immer. Aber kleine Schweine müssen nicht alles verstehen.

Hm. Wirklich alles leer. Wie doof. Außer einem Äpfelchen hätte Ferkel auch gern noch eine kleine Rückenmassage von Susanne gehabt – die hat doch so tolle Fingernägel und es ist immer so bequem bei ihr auf dem Schoß, wenn sie an ihrem Computer rumbastelt. Über das Argument mit „beide Hände zum Arbeiten brauchen“ sah Ferkel immer großzügig hinweg, und oft genug einigten sich die beiden. Arbeiten konnte Susanne schließlich auch dann, wenn Ferkel wohlig grunzend eingeschlafen war. Ferkel lief noch einmal zurück ins Arbeitszimmer, um Susannes Schreibtischstuhl zu überprüfen. Aber auch hier wieder: Fehlanzeige. Auch auf Judiths Stuhl saß niemand. Weiter ins Schlafzimmer, ins Wohnzimmer, ins Bad und nochmal in die Küche: überall das gleiche Ergebnis.

Ferkel begann scharf nachzudenken: Es war allein. Das bedeutete, dass niemand all die schönen Dinge stoppte, sobald es damit anfing – sowas wie Kommoden-von-innen-begucken, Im-Altpapier-rumstöbern-und-bunte-Prospekte-zerfetzen, Auf-dem-weißen-Wohnzimmersofa-hüpfen oder Schuhe-aus-dem-Schuhregal-angeln-und-verstecken. Das konnte Ferkel jetzt alles machen! Begeistert lief es raus in den Flur, zerrte eine Kommodenschublade auf und kletterte hinein.

Aha.
Schuhputzzeug.
Riecht doof.
Ansonsten leer. Und ein ziemlich dünner Boden.
Gelangweilt kletterte Ferkel wieder raus. Die Schuhe im Regal beäugte es im Vorbeilaufen, aber das Putzzeug in der Schublade hatte Ferkel irgendwie die Lust auf buntes Leder verdorben, das so ähnlich roch… Dann halt aufs Sofa im Wohnzimmer!

Mit dem zweiten Anlauf war Ferkel tatsächlich oben. Testweise hopste es ein paarmal, aber so riiiiiichtig Spaß machte das auch nicht. Komisch… Wenn Judith im Sessel gegenüber saß und versuchte, Ferkel zu fangen und runterzuwerfen, war das viel lustiger. Zugegebenermaßen auch immer sehr zügig vorbei, weil Judith schnell und Ferkel kitzelig war, aber es war fast eine Art Rennen, bei dem Ferkel ausgiebig quiekte, Judith schimpfte und Susanne grinste (was sie nie zeigte, aber Ferkel trotzdem sah).

Ferkel rutschte wieder vom Sofa, zog dabei die Decke und zwei Kissen mit und trottete in die Küche. Das Trockenfutter würdigte es keines Blickes, stattdessen stapfte es geradewegs zum Altpapier. Aber irgendwie fehlte die Inspiration, und die Prospekte waren auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Der Blick zum Obstkorb zeigte leider, was Ferkel geahnt hatte: Susanne und Judith wussten inzwischen, wie man Äpfel vor kleinen Schweinen in Sicherheit bringt. Sowas von unfair – DIE beiden konnte sich schließlich auch immer daran bedienen, wie sie lustig waren. Nur Ferkel musste immer betteln und war auf die Gnade der Ferkeldomteusen angewiesen. Pöh! Die Welt war UNGERECHT. Genauso wie das Schloss an der Süßigkeitenschublade, das Susanne angebracht hatte, nachdem Ferkel sämtliche Schokolade aufgefuttert und die Chips plattgelegen hatte.

So langsam bekam das kleine süße rosa Tierchen schlechte Laune. Da half nur Kuscheln. Aber mit wem? Ferkel fühlte ich plötzlich sehr einsam… Nur ein bisschen Kraulen von Susanne, nur ein wenig Streicheln von Judith – nur etwas Liebhaben! Und ein wenig an den beiden Schnuppern und sich vergewissern, dass sie es noch liebhatten… Ferkel schielte zur Schlafzimmertür… Eigentlich war es ihm ja streng verboten… aber… es war ja schließlich ein Notfall! Ein psüsüsischer oder wie das heißt. Nur ein bisschen… Und wenn der Schlüssel ins Schloss gesteckt wird und die zwei wiederkommen, kann es ja sofort wieder raus – merkt ja keiner…  Entschlossen trabte Ferkel zum Schlafzimmer, stieß die Tür auf, huschte hinein. Ohhhhh, es roch so gut hier! Da war ein Kleiderhaufen, und er roch nach Judith! Ferkel wühlte ein bisschen durch die Jeans und die Socken, die da lagen, steckte seine Nase ins T-Shirt und kuschelte sich an den BH. Das war sooooo schön. Und jetzt Susanne! Ferkel lief ums Bett herum und warf sich auf den Pulli, der da lag, das Nachthemd und das blaue Kleid, das Susanne gestern noch anhatte. Die Nase in die Leggins gesteckt, träumte Ferkel davon, zwischen  den beiden zu liegen und gekrault zu werden… Und beide zu riechen! So ging das ja gar nicht – sich entscheiden müssen. Aber kleine Schweine sind ja nicht dumm: Es gab einen Ort, der nach beiden roch: links nach Susanne, rechts nach Judith.

Mit einem Sprung war Ferkel auf verbotenem Terrain – dem Bett. Wäre fast auf dem Bett gewesen, vielmehr: Irgendwas war da… Irgendwas hielt Ferkel davon ab, hoch zu kommen… Hatten die zwei eine Schweinesicherung eingebaut? Sowas von gemein – und das in diesem emotionalen Notzustand! Ferkel ging einen Schritt zurück, um neu zum Sprung anzusetzen – aber so richtig weit kam es nicht. Panisch ging es wieder einen Schritt nach vorn und schaffte es so gerade noch auf Susannes Fußende – aber zur Bettmitte, wo es hinwollte, war es noch ganz schön weit! Hektisch strampelte Ferkel, aber je mehr es strampelte, desto weniger ging! Es hing fest! Laut quiekend wickelte sich Ferkel immer mehr in die Gardine, die an der Seite des Himmelbetts hing. Am Ende schaute noch eine Pfote, das Ringelschwänzchen und die Hälfte des Gesichts samt Rüssel heraus. Und dann hörte Ferkel ein Geräusch, das Hoffnung und Angst zugleich bedeutete: Der Schlüssel bewegte sich in der Tür! Susanne und Judith kamen wieder! Bestimmt würden sie schimpfen! Und nieeeeeee wieder Äpfelchen mitbringen und immer Trockenfutter füttern und keine Möhren mehr und kein Streicheln und kein Kraulen! Verdammt. Trotzdem: Ferkel wollte RAUS! Und quiekte, was das Zeug hielt. Jämmerlich, panisch, aber vor allem: laut!

Die Stimmen verstummten. „Was ist denn da los?“ – das war Judith: „Ich schau mal nach.“ Die Tür ging auf, Judith stand im Rahmen, schaute – und prustete los. Na toll. Trotzdem ging sie zum verhedderten Schweinchen, konnte sich vor Lachen aber kaum auf den Beinen halten. „Da…. hähähängt ein Schwwwwein in der … Ghghardihihine“, brachte sie so gerade noch heraus, schaffte aber keinen Millimeter Stoff abzuwickeln. Das machte Susanne dann – ebenfalls haltlos kichernd. „Eiiiigentlich haben wir dir ja ein Äpfelchen mitgegebracht – aber ob Du das verdient hast?“, fragte Susanne. Ach, Äpfelchen. Scheiß drauf. Kuscheln ist erstmal viel wichtiger.

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